Wider die Gesinnungsjustiz – für eine kritische Aufarbeitung des Rondenbarg-Prozesses

Wider die Gesinnungsjustiz – für eine kritische Aufarbeitung des Rondenbarg-Prozesses

Es ist der 7. Juli 2017, der Freitag des G20-Gipfels. Früh morgens zieht eine Demonstration mit etwa 200 Teilnehmer:innen von einem Camp im Altonaer Volkspark los. Gegen 6:30 Uhr trifft sie im Rondenbarg, einer Straße in einem Industriegebiet, trifft sie plötzlich auf die von fünf Wasserwerfern begleitete Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE) Blumberg. Ohne Vorwarnung stürmt diese auf die Versammlungsteilnehmer:innen los, um auf sie einzuprügeln. Aus der Demonstration werden – nach Beginn des Angriffs durch die Polizei[1] – vereinzelt Flaschen auf die Polizei geworfen, verletzt wird dabei niemand. Ein paar Versammlungsteilnehmer:innen bleiben stehen, viele versuchen zu fliehen. Links von der Straße ist eine hohe Böschung, von hinten stürmt weitere Polizei an. Viele versuchen, nach rechts eine von einem Geländer geschützte, mehrere Meter hohe Mauer herunterzuspringen, um über den dort gelegenen Parkplatz zu fliehen. Polizist:innen drücken dann Versammlungsteilnehmer:innen gegen das Geländer, das unter deren Last nachgibt. Die gegen das Geländer gedrückten Versammlungsteilnehmer:innen stürzen herab und ziehen sich teils schwere Verletzungen zu.

Nach Festnahmen durch die Polizei folgen Ermittlungsverfahren und später Anklagen. Insgesamt werden 85 Versammlungsteilnehmer:innen angeklagt. Ihnen werden gemeinschaftlicher schwerer Landfriedensbruch sowie weitere Delikte – gefährliche Körperverletzung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamt:innen, tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamt:innen, Sachbeschädigung, Bildung bewaffneter Gruppen – vorgeworfen.

Niemandem kann jedoch ein konkretes Delikt nachgewiesen werden. Die Staatsanwaltschaft lässt sich davon jedoch nicht beirren und beantragt erfolgreich Haftbefehle gegen Beschuldigte – weiterhin entgegen § 114 StPO ohne Vorliegen eines Verdachtes für eine konkrete strafrechtlich sanktionierte Handlung.[2]

Ende 2020 beginnen die ersten mündlichen Verhandlungen gegen fünf der 85 Angeklagten.

Zur Anwendung des Landfriedensbruchparagraphen, § 125 StGB

Wesentlicher juristischer Hintergrund ist die Anwendung des Landfriedensbruchparagraphen § 125 StGB.[3] Die derzeitige Fassung, nach der für die Erfüllung des Tatbestands erforderlich ist, sich an entsprechenden Gewalttätigkeiten oder Bedrohungen beteiligt zu haben, die dann aus der Menschenmenge heraus begangen werden, oder auf eine Menschenmenge entsprechend eingewirkt werden muss, also nicht ausreicht, lediglich an einer Versammlung teilzunehmen, aus der heraus Gewalttätigkeiten oder Bedrohungen begangen werden, hat der Paragraph seit der Strafrechtsreform 1969.[4] Bis dahin reichte aus, Versammlungsteilnehmer:in zu sein, um den Straftatbestand zu erfüllen. Bei der Gesetzesänderung 1969, die, was den Tatbestand betrifft, im Wesentlichen bis heute besteht, hatte der Gesetzgeber vor dem Hintergrund allgemeiner Liberalisierungstendenzen im Strafrecht auch genau das zum Ziel, die bloße Versammlungsteilnehmer:innenschaft zu entkriminalisieren.

Vor diesem Hintergrund zeichnen die Rondenbarg-Verfahren eine Tendenz ab, den § 125 StGB über den Wortlaut hinaus auszudehnen. Den Angeklagten wird lediglich zur Last geworfen, Teilnehmer:in der Versammlung zu sein, aus der heraus Gewalttätigkeiten gegenüber der Polizei begangen sein sollen. Die Staatsanwaltschaft spricht der Versammlung dabei auch ab, eine politische Demonstration zu sein, um so den Sachverhalt aus dem Schutzbereich des Demonstrationsgrundrechtes herauszuhalten – obwohl die Versammlung sämtliche im Verwaltungsrecht gängigen Merkmale für eine politische Demonstration erfüllt (so gingen die Versammlungsteilnehmer:innen bspw. in geschlossener Formation, trugen Transparente und riefen Parolen).

Diese Tendenz ist als krasser Angriff auf das Versammlungsgrundrecht zu qualifizieren und richtet sich darüber hinaus gegen den verfassungsrechtlich verankerten Grundsatz „keine Strafe ohne vorherige gesetzliche Bestimmtheit“. Die Staatsanwaltschaft will eine Verurteilung auch ohne ausreichende Rechtsgrundlage erwirken, um so ein politisches Signal gegen Linksradikale zu setzen. Das ist Gesinnungsjustiz.

Gefährliche Tendenzen in der Strafrechtspolitik

Während passiert, was rechtlich gar nicht sein dürfte (nämlich, dass ohne den Vorwurf einer konkreten strafrechtlich sanktionierten Handlung Personen nach dem § 125 StGB angeklagt werden), fordern einige bereits die Anpassung des Rechts an die tatsächlichen Begebenheiten. So forderte Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul die Ausweitung des Tatbestandes in § 125 StGB auf alle Versammlungsteilnehmer:innen, um so besser gegen die verschwörungsideologische „Querdenken“-Bewegung sowie gegen Klimaaktivist:innen vorgehen zu können.[5] Reul fordert insoweit die Zurückänderung des § 125 StGB auf den Stand von 1872.

Auch in der Schweiz hat sich die Tendenz zu einer Ausweitung des Tatbestandes auf alle Versammlungsteilnehmer:innen abgezeichnet. Zwar bezieht sich der Wortlaut des Art. 260 StGB (Schweiz) auf alle Versammlungsteilnehmer:innen.[6] Allerdings hatte das schweizerische Bundesgericht bislang die Anwendung des Art. 260 im Wege der grundrechtskonformen Auslegung auf solche Fälle begrenzt, in denen Beschuldigte die Gewalttätigkeiten zumindest gebilligt hatten. Dies hat sich mit den Prozessen im Zusammenhang mit der „Basel nazifrei“-Demonstration 2018 geändert, bei der gegen Teilnehmer:innen einer genehmigten antifaschistischen Gegenkundgebung Strafverfahren durchgeführt wurden, ohne diesen konkrete strafrechtlich sanktionierte Handlungen vorwerfen zu können, und diese nach dem Art. 260 StGB (Schweiz) auch zu Haftstrafen verurteilt wurden.[7]

Unsere Forderungen

Für uns ist klar: Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit darf nicht noch weiter eingeschränkt werden! Eine Versammlung steht auch dann unter dem Schutz des Grundrechts auf Versammlungsfreiheiten, wenn aus ihr heraus Gewalttaten begangen werden. Versammlungsteilnehmer:innen, denen keine Gewalttätigkeiten nachgeweisen werden können, dürfen daher auch nicht bestraft werden.

Wir fordern daher:

[1] Dies belegen (Polizei-)Videos des Einsatzes, die die Darstellung der Polizei widerlegen, nach der die Polizei zuerst massiv mit Flaschen, Steinen und Bengalos beworfen worden sei, widerlegen, vgl. bspw. hier: G20-Vorfall am Rondenbarg: das Polizeivideo, Panorama 3 v. 23.8.2017, https://www.ardmediathek.de/ndr/video/panorama-3/g20-vorfall-am-rondenbarg-das-polizeivideo/ndr-fernsehen/Y3JpZDovL25kci5kZS85NzIzYmZiMC05ZTNjLTRkNjYtYTBiYi1hNWZjZjdiNWE3Yzk/ [21.12.2020].

[2] Dazu u. a. Kristian Stemmler, „Das Verfahren folgt politischer Agenda eines Teils der Justiz“, Interview mit Matthias Wisbar, junge Welt v. 19.12.2020, https://www.jungewelt.de/artikel/392881.g-20-gipfel-in-hamburg-das-verfahren-folgt-politischer-agenda-eines-teils-der-justiz.html [21.12.2020].

[3] Wortlaut: 㤠125 РLandfriedensbruch:

(1) Wer sich an

  1. Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder Sachen oder
  2. Bedrohungen von Menschen mit einer Gewalttätigkeit,

die aus einer Menschenmenge in einer die öffentliche Sicherheit gefährdenden Weise mit vereinten Kräften begangen werden, als Täter oder Teilnehmer beteiligt oder wer auf die Menschenmenge einwirkt, um ihre Bereitschaft zu solchen Handlungen zu fördern, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(…)“

[4] Wortlaut in der Fassung bis vor dem 1.9.1969: 㤠125:

(1) Wenn sich eine Menschenmenge öffentlich zusammenrottet und mit vereinten Kräften gegen Personen oder Sachen Gewaltthätigkeiten begeht, so wird jeder, welcher an dieser Zusammenrottung Theil nimmt, wegen Landfriedensbruches mit Gefängniß nicht unter drei Monaten bestraft.

(…)“

Die Änderungshistorie lässt sich über https://lexetius.com/StGB/125 [21.12.2020] nachverfolgen.

[5] Reul will Paragrafen für Landfriedensbruch ändern (Agenturmeldung), Zeit online v. 10.12.2020, https://www.zeit.de/news/2020-12/10/reul-will-paragrafen-fuer-landfriedensbruch-aendern [21.12.2020]

[6] Wortlaut des Art. 260 StGB (Schweiz): Art 260 Landfriedensbruch:

(1) Wer an einer öffentlichen Zusammenrottung teilnimmt, bei der mit vereinten Kräften gegen Menschen oder Sachen Gewalttätigkeiten begangen werden, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.

(…)“

[7] Siehe dazu u. a. Anja Conzett/Daniel Faulhaber, Was ist los in dieser Stadt? Der Tag im November, der Basel nicht mehr loslässt, Republik v. 24.11.2020, https://www.republik.ch/2020/11/24/der-basel-report-teil-1-der-tag-im-november-2018-der-basel-nicht-mehr-loslaesst [21.12.2020] und dieselben, Wer eskaliert wen? Die Basler Staatsgewalt außer Kontrolle, Republik v. 25.11.2020, https://www.republik.ch/2020/11/25/der-basel-report-teil-2-wer-eskaliert-wen-die-basler-staatsgewalt-ausser-kontrolle [21.12.2020].