Awarenessstrukturen aufbauen

Beschluss der 30. Landesvollversammlung am 23.-24. Oktober 2021

Die Satzung wird um einen weiteren Paragraphen „Awareness“ ergänzt:

(1) Sexualisierte Gewalt sowie Diskriminierung und Gewalt aufgrund von Geschlecht oder Sexualität ist nicht mit den Prinzipien der Linksjugend solid Berlin vereinbar.

(2) Das Landes-Awarenessteam hat die Aufgabe, Betroffenen von (1) aus verbandsinternen Kontexten nach eigenen Ressourcen beizustehen und im Interesse dieser Betroffenen zu handeln.

(3) Es setzt sich zusammen aus mindestens zwei FLINTA-Personen und wird in einer Blockabstimmung von der LVV durch einfache Mehrheit gewählt bzw. abgesetzt. Bewerber*innen für das Awarenessteam müssen mindestens eine Bildungsveranstaltung mit Bezug zu Awareness-Arbeit besucht haben. Mitglieder des Awarenessteams dürfen nicht gleichzeitig Mitglied im LSpR sein.

(4) Das Awarenessteam entscheidet selbst über seine Arbeitsweisen. Es folgt dem Awarenesskonzept des Landesverbandes, an welchem es selbst aktiv mitarbeitet.

(5) Es können sich alle Mitglieder des Verbandes an das Awarenessteam richten, wenn sie von (1) betroffen waren/sind und Unterstützung wünschen. Das Awarenessteam verpflichtet sich im Sinne der*des Betroffenen parteiisch zu sein und in ihrem*seinem Interesse zu handeln.

(6) Das Landes-Awarenessteam kann, abhängig von den eigenen Kapazitäten, für Veranstaltungen des Landesverbands externe Awarenessteams hinzuziehen oder beauftragen, welche vom Landesverband entsprechend vergütet werden. Auf Veranstaltungen hat das Awareness-Team das Recht, nach Rücksprache mit den Veranstalter*innen übergriffige Personen mit Verweis darauf, dass ihr Verhalten nicht toleriert wird, von der Veranstaltung zu verweisen.

(7) Das Awareness-Team darf stellvertretend für Betroffene sexualisierter Gewalt bei der Schiedskommission den Ausschluss aus dem Jugendverband von Täter*innen basierend auf (1) beantragen, wenn gewünscht. Dabei steht das Awarenessteam nicht in der Pflicht, Bezug auf Betroffene zu nehmen.


Darauf basierend wird vom Landesverband Berlin umgesetzt:

Das Awarenessteam ist eine reagierende Struktur. Es wird unterstützt durch ein Gremium, das langfristige Strukturen wie Anträge, Bildungsmaterialien und Workshops ausarbeitet und bereitstellt. Das Gremium ist somit die proaktive Awareness-Struktur und trägt im besten Fall dazu bei, dass in (1) genannte Vorfälle nicht mehr bzw. seltener vorkommen. Das Gremium wird wiederum durch das gewählte Awarenessteam unterstützt, indem dieses auf Plena vertreten ist und sich an der Gremienarbeit beteiligt.
Das Awarenessteam und das Gremium sollen gemeinsam die Frage lösen: „Wo kann ich Probleme, die ich sehe, ansprechen?“

 

Das Awarenessteam und das Gremium kümmert sich dabei nicht alleine um Probleme, sondern der ganze Verband, jeder LAK, jede BG, alle Genoss*innen sind in der Verantwortung, das Gremium koordiniert und verbindet dabei. Es soll in allen Basisgruppen und Gremien Personen geben, die als ständige Ansprechpartner*innen in diesen Umfeldern bereit sind auf betroffene Personen einzugehen. So kann autonom auf Fälle eingegangen werden und sich bei Bedarf oder Befangenheit Unterstützung vom Awarenessteam geholt werden.
Welche Schlüsse, Lösungen und Kommunikation umgesetzt werden sollen, richtet sich dabei letztenendes nach den Betroffenen, nach den Kernaspekten der Definitionsmacht, Parteilichkeit und Vertraulichkeit.
Extern vorhandenes, oder explizit dafür erstelltes Vortrags- und Workshopmaterial soll dabei helfen und von allen Menschen im Verband genutzt und erweitert werden. Der LSpR unterstützt das Gremium dabei, dass das Awarenesskonzept im Verband möglichst breit umgesetzt wird.

 

Das Gremium und das Awarenessteam behandeln initial Sexualisierte Gewalt sowie Diskriminierung und Gewalt aufgrund von Geschlecht oder Sexualität im Landesverband.
Perspektivisch arbeiten beide Strukturen darauf hin, ähnliche Strukturen und Handlungsfähigkeit in Bezug auf rassistische Übergriffe und dem Abbau von Barrieren im Landesverband zu erreichen.

Das Awarenesskonzept wird fortlaufend vom Gremium erweitert, bei Solid Sessions vorgestellt und zur Legitimation regelmäßig der Landesvollversammlung als Antrag vorgelegt.
Kernaspekte dieses sollen sein:
– Wie ermöglichen wir es Menschen, sich möglichst ohne die Diskriminierungsformen der Mehrheitsgesellschaft sowie mit Möglichkeiten der Intervention und der Kommunikation nach Übergriffen in unserem Verband zu engagieren, um diesen Verband auch repräsentativer für diese Betroffenen zu gestalten?
– Es umfasst alle Basisgruppen, Landesverbandsgremien und alle Veranstaltungen. Basisgruppen sollen dabei möglichst eigene Awarenessstrukturen aufbauen, um autonom und direkt auf Probleme reagieren zu können.
– Das Awarenessteam als Unterstützungsstruktur bei Übergriffen, mit den Konzepten von Definitionsmacht, Parteilichkeit und Vertraulichkeit.
– Der Transformative-Justice-Ansatz – grenzüberschreitende Personen werden nicht sofort ausgeschlossen (es sei denn das ist der Wunsch der betroffenen Person(en)), sondern es wird ein Prozess in Gang gesetzt, der weiteres übergriffiges Verhalten der Täterperson dauerhaft verhindert z.B. durch Gespräche/Workshops/Care-Arbeit.
– Ein Arbeiten an allen Diskriminierungsformen in Gesellschaft und Verband: Es sollen stetig neue Konzepte erarbeitet werden, um dieses Arbeiten voranzubringen und für weniger Diskriminierung, aber auch mehr Repräsentation unterrepräsentierter Personen, linker Theoretiker*innen abseits weniger historischer und alter cis Männer sowie ihrer Perspektiven in unserer Arbeit zu sorgen. Dabei soll es auch möglich sein, durch Beratung des LSpR kritisch auf die Verteilung der Finanzierung einzuwirken.

 

Da eine ordentliche Wahl des Awarenessteams erst auf der nächsten Landesvollversammlung möglich sein wird, wird das Gremium zunächst als Landesarbeitskreis (LAK) gegründet, der folgende Aufgaben übernimmt:

– Erste Ansprechstelle für Betroffene (siehe (1)) und Weitervermittlung an externe Awarenessteams.
– Initiale Erarbeitung eines Awareness-Konzepts als Vorschlag an das zu wählende Awarenessteam.
– Motivation durch Workshops und Bildungsveranstaltungen für Mitglieder, sodass möglichst viele geeignete, vorbereitete Personen das erste Awarenessteam bilden können.
– Bei Bedarf: Ausarbeitung eines LVV-Antrages mit dem Ziel, das Gremium in der Satzung zu verankern.

 

Begründung

Awarenessarbeit bedeutet, Leute zu sensibilisieren, auf sich selbst und andere zu achten – insbesondere auch auf jene, die von den vorherrschenden Normen eines sozialen Umfelds abweichen.
Damit soll die Gefahr des Überschreitens von persönlichen Grenzen (bis hin zu Gewalt) verringert werden. Falls es dennoch zu einer Grenzüberschreitung kommt, wird sich mit Betroffenen solidarisiert und gemeinsam nach Lösungen gesucht, damit diese in der Zukunft vermieden werden können.

 

[ContentNote: sexualisierte Gewalt]

 

Auch vor linken Umfeldern macht die Mehrheitsgesellschaft nicht halt. Angelernte rassistische Sprichwörter, Herunterspielen von sexueller Übergriffigkeit, anerzogenes heteronormatives Denken – die Gesellschaft prägt uns alle, weshalb eine Linke immer auch auf das Sichtbarmachen und aktive Gegensteuern solcher Muster setzen muss, gerade in Strukturen mit viel Fluktuation wie einem Jugendverband.

Diese Probleme gibt es auch bei uns, nicht nur in der Theorie von theoretischen Akademiker*innen, wie uns Sahra Wagenknecht erzählen will. Inklusion, Antirassismus, Feminismus – als Jugendverband haben wir auch viele neue, junge Leute, die in politischer Theorie genauso noch geprägt werden müssen wie im Erkennen und Bekämpfen von direkten und strukturellen Diskriminierungsformen.
Anders als die beschissene Gesamtgesellschaft wollen wir in unseren Kontexten dafür sorgen, dass Betroffene sich sicher bei uns fühlen, übergriffiges Verhalten nicht ignoriert und toleriert wird und offene Gespräche über diese Themen stattfinden!

 

Konkret gibt es leider auch Probleme in unserem Umfeld:
– Die angesprochene Sahra Wagenknecht samt Umfeld versucht nicht nur die Diskursverschiebung nach rechts und damit die Entziehung von Solidarität und politischer Vertretung für migrantische, queere oder behinderte Menschen. Ihr konkretes Abstimmungsverhalten sorgt jetzt schon aktiv dafür. Wir können nicht die SPD für die Verhinderung des Selbstbestimmungsgesetzes kritisieren, sodass trans Menschen weiterhin dem unmenschlichen TSG ausgesetzt sind. Die Wagenknecht-Fraktion hat auch aktiv dagegen gestimmt!

– In Nürnberg gibt es einen Fall sexualisierter Gewalt eines Bundestagskandidaten, der monatelang von Akteur*innen innerhalb der Partei gedeckt wurde und sich immer noch in den Medien als Opfer darstellt. Parteiintern ist dessen sexistisches Verhalten und auch der Übergriff seit Langem bekannt, allerdings werden wie so oft lieber die Täter*innen unterstützt statt den Betroffenen. In solchen Strukturen kann es kein feministisches Streben geben, ohne das aktiv und offen aufzuarbeiten!

– Auch im Verband gibt es Probleme mit diskriminierendem, mindestens sexistischem, Verhalten und sexuellen Übergriffen. Den Antragssteller*innen sind 2 Fälle bekannt im letzten Jahr, in beiden Fällen wurde der LSPR nicht von den Betroffenen informiert und beide Fälle bleiben daher im Verband nahezu unbekannt. Daher ist auch von einer hohen Dunkelziffer auszugehen, welche nicht zuletzt durch ausbleibende Strukturen außerhalb des LSPR bzw. einer ausbleibenden Kommunikation des LSPRs als Ansprechpartner*innen schlecht zu reduzieren ist. Ein weiteres Problem ist die Aussenwirkung: Es sind Gruppen bekannt, die aktuell die Zusammenarbeit mit dem Verband eingestellt haben, weil diese Gerüchte dazu mitbekommen haben und davon ausgehen, dass die Täter*innen immer noch im Verband aktiv sind und die Aufarbeitung der Vorfälle mangelhaft ist.

 

Aus diesen Gründen gibt es Strukturen dagegen in vielen Landesverbänden der Linksjugend [’solid]:
– In quasi allen Landesverbänden sind Awarenessteams bei Veranstaltungen zum Beispiel Standard.
– Der Landesverband Sachsen hat eine*n Inklusionsbeauftragte*n in der Satzung. (R1)
– Der Landesverband Thüringen hat ein mindestens zweiköpfiges Awarenessteam in der Satzung. (R2)
– Der Landesverband Saarland hat die Schaffung von Barrierefreiheit als eigenen Absatz in der Satzung. (R3)
– Es gibt Pläne, auf dem BuKo dieses Jahr wieder ein Awarenessteam auf Bundesebene einzuführen.
Diese Stimmung der steigenden Anerkennung der Wichtigkeit dieser Themen sollten wir proaktiv nutzen, denn je verbreiteter die Strukturen und anerkannter deren Normalität in linken Organisationen sind, desto mehr werden diese übernehmen. Hier können wir von den Erkenntnissen anderer Landesverbände lernen und gleichzeitig den Jugendverband bundesweit per Vorbild prägen.

 

Die Abwertung und das Ausgrenzen von marginalisierten Menschen sowie eine Kultur der Diskriminierung und Übergriffe sind strukturelle Probleme, die in der gesamten Gesellschaft vorkommen. Daher sollte es strukturelle Lösungen für diese Probleme in Form eines Awarenesskonzepts geben, genauso wie ein Awarenessteam, welches sich um konkrete Probleme kümmert. Strategien wird das gebildete Gremium entwickeln und einbringen, aber niemand kennt Barrieren und Diskriminierung besser als davon Betroffene. Wir müssen diese Perspektiven nutzen, damit alle davon profitieren können.
Aber diese Barrieren sorgen zu oft dafür, dass die Personen kaum gehört werden. Daher muss ein Awarenessteam explizit in der Satzung verankert werden, um sich mit entsprechender Legitimation für Betroffene einsetzen zu können. Die Zusammenarbeit mit dem Landessprecher*innenrat ist dabei wichtig, von beiden Seiten, um die Ideen und Probleme im Kontext des ganzen Verbandes betrachten zu können und Lösungsvorschläge erarbeiten zu können.

 

Wo das Awarenessteam in den Verband hinein wirkt, soll das Awarenesskonzept auch ein Kanal nach außen sein.
Es ist zugleich politisches Grundsatzprogramm und eine Vorlage für zu bearbeitende Themenbereiche. Weiterhin wirkt es positiv für die Neumitgliedergewinnung, wenn wir damit eine konkrete Beschlusslage haben, gerade für Menschen mit Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt. Diese Beschlusslage samt unterstützender Strukturen zukünftig auch bei Rassismus und Ableismus zu erarbeiten kann die Anzahl der Menschen weiter erhöhen, die wir erreichen und für die wir einen sichereren Ort als die Mehrheitsgesellschaft darstellen können.

 

Resourcen dazu:

Literatur:

  • Antisexistische Awareness – Unrast Verlag
  • Unterstützung geben – Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit Gewalt und Diskriminierung – Unrast Verlag
  • Exit Racism – Rassismuskritisch denken lernen – Hanser Verlag
 
 

Beratungsstellen in Berlin:

Krisenhotlines für Berlin:

  • BIG Hotline – Hilfe bei häuslicher Gewalt gegen Frauen (sic) und ihre Kinder: 030 – 611 03 00 (8-23 Uhr), mail@big-hotline.de, www.big-hotline.de
  • Psychiatrischer Notdienst: 030 – 322 2020
 
 
Referenzen: